Er hatte es sich anders vorgestellt. In seinen Träumen, die immer klarer wurden, je näher der Termin kam. Und jetzt war er da. Er schaute sie an, suchte in ihren Augen dieselbe Freude, die er in diesem Moment des Wiedersehens empfand. Aber er nahm nur Zurückhaltung wahr, die professionelle Distanz der Menschen in weissen Kitteln, verstärkt durch den Tisch zwischen ihnen.
Leon wartete darauf, dass sie ihm wie beim letzten Mal eröffnen würde, dass sein Vorsorgeuntersuch ohne Befund sei. «Alles ist gut», hatte sie damals gesagt und «wir sehen uns in drei Jahren wieder». Diesmal war es anders. Sie zögerte. Eine beunruhigende Stille schob sich zwischen sie. Sie senkte ihren Blick auf die Unterlagen, dann schaute sie ihn wieder an. Jegliche Distanz war von ihr abgefallen. «Leider muss ich Ihnen mitteilen …». Er hörte gar nicht genau hin. «Leider…» - Leon hasste Sätze, die mit diesem Wort begangen. Kaum einmal hatte dieses Wort zu etwas Gutem geführt. Wie auch, wenn das Bedauern bereits am Anfang ausgesprochen wird. Das lässt keinen Spielraum zu, zumindest keinen, der Gutes verspricht. Ihre weiteren Worte rieselten an ihm vorbei. Er mochte diese Frau, ihre warmen Augen, die das letzte Mal so gestrahlt hatten. Jetzt drückten sie Anteilnahme und Bedauern aus. Nicht «kein Befund», sondern «ein Befund». Er hasste diesen k-Buchstaben, der den entscheidenden Unterschied ausmachte und eine scharfe Trennlinie bildete zwischen Kranksein und Gesundsein.
Jetzt würde er die Ärztin wohl in Zukunft regelmässig wiedersehen. Sein Wunsch, der während der letzten drei Jahre gewachsen war, würde damit auf perfide Art und Weise in Erfüllung gehen. Aber er hatte es sich anders vorgestellt. So oft hatte er sich ausgemalt, wie er diese attraktive Frau mit dem klingenden Namen Amelie nach der Besprechung einladen würde, das gute Ergebnis und das Leben mit ihm zu feiern. Ohne ein Wort stand er auf und ging hinaus. Diesmal begleitete ihn kein «alles Gute», kein «auf Wiedersehen in drei Jahren». Zu plötzlich war sein Aufbruch.
Lange war Leon ziellos durch die Stadt gelaufen, hatte weder den Gesang der Vögel gehört noch den sanften Duft des Flieders wahrgenommen. Er war gefangen in seinen stummen Gedanken, überwältigt vom Undenkbaren. Es war bereits dunkel, als er merkte, dass er in der Strasse zu seinem Haus war. Zuhause, das fühlte sich plötzlich so fremd an. Gab es für einen an einer tödlichen Krankheit erkrankten Mann ein Zuhause?
Noch nicht bereit hineinzugehen, setzte er sich auf eine Bank. Und nun sass er hier und blickte zu dem dunklen Haus hinüber. Es war kühl und er fröstelte. Ein Schwindel erfasste ihn beim Gedanken, dass er einfach hier sitzen bleiben könnte. Morgen würde ihn jemand finden und die Tageszeitung hätte eine neue Schlagzeile: «Mann erfroren, direkt vor seinem Haus.» Sie würden rätseln, wie das hatte passieren können. Könnte er noch sprechen, würde er ihnen sagen, dass er die Abkürzung genommen hat.
Ja, eine Abkürzung. Aber er könnte auch aufstehen und hineingehen in die Wärme seines Hauses. Er könnte in jedem Zimmer das Licht einschalten, bis das ganze Haus beleuchtet wäre. Und dann würde er ein Fest feiern. Feiern, dass er noch da war, dass er noch lebte.
© Bernadette Gisler
Bild erstellt mit KI (ChatGPT)