Klirrende Stille lässt Annas Herz gefrieren. Die glockenartigen Rufe der Glögglifrösche, welche während der letzten Wochen einen nicht zu überhörenden Klangteppich gewebt haben, sind mit einem Schlag verstummt. Stattdessen herrscht jetzt eine Stille, welche keinem Geräusch die Chance gibt, gehört zu werden. Sind die Töne und Klänge noch da und Anna hört sie nicht mehr oder hat die Welt aufgehört zu tönen?
Vorsichtig schaut Anna durch die Glastür im Eingang. Für einen kurzen Moment setzt ihr Herzschlag aus. Vor der Tür sitzt eine Kröte. Menschengross, mit warziger Haut und einem Maul, das fast so breit ist wie der Türrahmen und schaut sie aus grossen Augen an.
Anna ist froh, dass neben der Glastüre zwei Fenster eingebaut sind, die bis zum Boden reichen. So kann sie nach Draussen schauen und gleichzeitig die Kröte beobachten, ohne hinaus zu gehen. Sie fühlt sich wie eingesperrt im eigenen Haus. Ein Gefängnis, das Schutz und Sicherheit bietet.
Die dröhnende Stille wird durchbrochen durch das ferne Knattern eines Motorrads. „Eine Harley“, denkt Anna. Als ob das wichtig wäre. Auch die Kröte hört das Geräusch. Sie dreht sich um und öffnet das Maul. Blitzschnell schiesst ihre Zunge heraus. Eine kurze Schnappbewegung und die Zunge verschwindet wieder im Schlund des Tieres. Und zur gleichen Zeit ist auch das Geräusch des Motorrads weg. Wie verschluckt.
Eine Spaziergängerin mit Hund geht am Haus vorbei. Der Hund scheint eine Gefahr zu wittern. Kampfbereit steht er da, die Nackenhaare aufgestellt zieht er seine Lefzen hoch und bellt. Wieder dreht sich die Kröte blitzschnell um. Sie schluckt kurz und das Bellen des Hundes ist nicht mehr zu hören. Anna fröstelt.
In der Hoffnung, dass stetige Musik die Kröte irgendwann sättigen werden, stellt Anna das Radio an. Sowohl die Stimme des Sprechers als auch die gespielten Songs: Die Kröte schluckt sie genüsslich hinunter und Anna hört keinen einzigen Ton.
Das muss etwas Bliblisches sein. Eine Plage, welche die Macht der Menschen übersteigt. Anna schaut die Kröte mit ihrem dicken Hals an, sieht wie diese genüsslich die verschluckten Geräusche verdaut und gleichzeitig auf der Lauer liegt, um das nächste Geräusch einzufangen. Kriegt sie denn nie genug? Wohl kaum. Völlerei nennt die Bibel diese Gefrässigkeit, dieses Verhalten, wenn jemand nie genug hat und gierig immer noch mehr verschlingt. Masslos und ohne Rücksicht auf die anderen. Völlerei ist eine der sieben Todsünden. Aber das ist der Kröte wohl egal. Genüsslich verschlingt sie weiter jedes Geräusch in ihrer Nähe. Totenstille ist die Folge.
Manchmal müssen wir unsere Dämonen füttern. Anna holt eine grosse Trommel. Sie spürt die Schwingung, wenn sie mit ihren Handflächen einen Rhythmus schlägt. Sie ist froh, dass sie sich trotz der unheimlichen Stille mit den Geräuschen dieser Welt verbinden kann. Die Kröte schluckt und schluckt, fast wie eine Ertrinkende schnappt sie zwischendurch nach Luft. Sie rülpst, möchte sich übergeben. Aber die Flut der Töne lässt das nicht zu. Erschöpft sinkt sie zu Boden, schliesst ihre Augen und streckt die Glieder aus.
Anna hört wieder den Wind, der durch die Blätter des Baumes streicht. Vögel, die ganz vorsichtig mit ihrem Gesang die zurückgekommenen Klänge der Welt begrüssen und die Glögglifrösche, welche wieder ihren Klangteppich weben, um damit die Weibchen anzulocken.
© Bernadette Gisler
Bild erstellt mit KI (ChatGPT)