Es war einmal vor langer Zeit in einem fremden Land das Dorf Kaponka. Es war ein reiches Dorf. Die Dorfbewohner lebten von der Landwirtschaft und vom Handel. Auf einem Hügel in der Nähe des Dorfes war ein kleiner Tempel und in diesem Tempel brannte in einer goldenen Schale ein Feuer. Auserwählte Kinder des Dorfes hatten die Aufgabe, dieses ewige Feuer zu unterhalten, damit es nie auslöscht. Es war eine Ehre für die Kinder, wenn sie mit dieser Aufgabe betraut wurden und sie sammelten mit grossem Eifer Holz und wohlriechende Kräuter die sie dem Feuer übergaben.
Im Dorf lebte der Händler Hirosha mit seinem Sohn Handu. Der Händler war in seinem Beruf sehr erfolgreich und ein angesehener Mann. Handu war ohne seine Mutter aufgewachsen und wurde von seinem Vater sehr verwöhnt. Als er 14 Jahre alt wurde, meinte Hirosha, dass sein Sohn auch zu den auserwählten Kindern gehören sollte und obwohl er wusste, dass Handu lieber spielte als arbeitete, bat er die Weisen des Dorfes, Handu als Diener des Feuers aufzunehmen. Normalerweise müssen die Kinder eine schwere Prüfung bestehen, um aufgenommen werden. Handu jedoch nicht. Niemand weiss, wie Hirosha die Weisen überzeugen konnte. Es wird vermutet, dass sie sich von seinem grossen Wohlstand blenden liessen oder von seinen guten Taten und vielen Geschenken.
So kam es, dass Handu an einem Frühjahrsmorgen zum Tempel ging, um dem Feuer zu dienen. Drei Tage lang ging es sehr gut. Alles war neu für ihn und es war wie ein Spiel, die Äste zu sammeln und das Feuer zu unterhalten. Am vierten Tag, als er dabei war, wohlriechende Kräuter zu sammeln, sah er plötzlich kleine, weisse Steinchen am Boden. Er sammelte sie alle auf und brachte anstelle der Kräuter die Steinchen in den Tempel. Er setzte sich auf den Boden und begann damit zu spielen. Einige Kinder schauten ihn aus einiger Entfernung vorsichtig zu. „Was macht Handu?“ fragten sie sich. Da alleine spielen mit der Zeit langweilig wird, bat Handu am nächsten Tag die anderen Kinder, mit ihm zu spielen. Immer mehr Kinder gesellten sich zu ihm. Am Anfang erinnerten sich noch einige Kinder an das Feuer und gingen schnell zur goldenen Schale und legten etwas Holz nach. Doch je länger sie spielten, umso weniger dachten sie an das Feuer. Am siebten Tag passierte es dann: das Feuer in der goldenen Schale erlosch.
Die Sonne versteckte sich hinter dichten Wolken, Nebeschwaden zogen auf und hüllten alles in einen schweren, feuchten Dunst. Die Kinder liefen erschreckt nach Hause. Die Erwachsenen kamen von den Feldern zurück ins Dorf. Alle Dorfbewohner trafen sich auf dem Dorfplatz. Jemand rief „wir brauchen Feuer, hat jemand Feuer?“. Aber niemand hatte Feuer, denn bisher hatten sie das Feuer immer beim Tempel geholt, wenn sie es brauchten. Die Leute rauften sich die Haare, sie wurden traurig und begannen zu jammern. Andere wurden wütend und machten sich gegenseitig Vorwürfe und stritten darüber, wer die Schuld trage. Niemand hatte mehr Lust, zu arbeiten. Wozu auch? Ohne Sonnenlicht würde eh nichts mehr wachsen!
Etwas abseits von den Leuten stand ein kleines Mädchen, das mit grossen Augen beobachtete, wie die Dorfbewohner jammerten und stritten. Es war Amda, ein stilles Mädchen, das nicht viele Freunde hatte. Niemand bemerkte, wie Amda, sich leise vom Dorfplatz entfernte und vorsichtig den Weg zum Tempel mit der goldenen Schale suchte. Es war nicht einfach, die Schale zu finden. Sie funkelte nicht mehr im Licht und war jetzt schwarz gefärbt vom Russ des abgestorbenen Feuers. Amda konnte diesen Anblick nicht ertragen. Sie riss Stoff-Streifen von ihrem Kleid und rieb damit die Schale aus, bis sie wieder sauber war. Traurig betrachtete sie die Schale. Sie erinnerte sich, wie schön sie früher gefunkelt und gestrahlt hatte, als das Feuer noch in ihr gebrannt hatte. Ihre Augen wurden ganz feucht und eine Träne löste sich und fiel als kleiner, schimmernder Tropfen in die Schale. Es wurden immer mehr und langsam bildete sich ein kleiner Tränensee in der Schale. Gedankenverloren tauchte Amda ihren Finger hinein und bewegte ihn langsam und vorsichtig am Rand der Schale entlang, bis plötzlich ganz leise Töne aus der Schale aufstiegen. Immer weiter kreisten Amdas Finger und aus den Tönen wurde eine Melodie - die Schale begann zu singen. Die Dorfbewohner hören die Klänge, sie staunen und vergessen zu streiten. Hingebungsvoll stehen sie da und hören die wunderschönen Melodien, die vom Tempel her ihre Ohren streifen. Und sie beginnen wieder zu lachen und sich zu freuen bis irgendwann sich die Wolkendecke öffnet und ein Sonnenstrahl sich durch die zähen Nebelschwaden kämpft. Schnell legt Amda feine Ästchen und ein paar wohlriechende Kräuter in die Schale. Sie hebt die Schale auf und fängt damit den Sonnenstrahl ein. Die Ästchen entzünden sich und kleine Flammen beginnen in der Schale zu tanzen. Amda legt die Schale an ihren alten Platz zurück. Das ewige Feuer ist wieder zurückgekehrt und vertreibt die letzten Nebelschwaden aus dem Dorf. Alle Dorfbewohner kommen zum Tempel und feiern ein grosses Fest. Die Kinder tanzen um das Feuer, sie suchen Äste und Kräuter und dienen ihm wieder so, wie sie es früher gemacht hatten.
Es heisst, dass seither im Dorf Kaponka einmal im Jahr alle goldenen Schalen klingen und dass das ewige Feuer heute noch brennt.
Bernadette Gisler
Bernadette Gisler