07.01.2021
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Die Bambusbrücke - eine Übergangsgeschichte

 

Bambusbrücke

 

 

 

   Die Bambusbrücke

 

 

von Bernadette Gisler

 

Mai Li schaute hinauf in den klaren Nachthimmel. Die weisse Scheibe war fast voll, schon bald würde ihre Freundin Mi El sie wieder auf der Insel besuchen. Mi El war der einzige Mensch, zu dem sie in den letzten bald sieben Jahren Kontakt hatte.

Sie hatte neben ihr gesessen, als sie nach ihrem tiefen Schlaf auf weichen Bananenblättern aufgewacht war. Mit einem Lächeln hatte Mi El sie auf der Insel willkommen geheissen. Mai Li wollte hier nicht hier sein. Sie wollte zurück nach Hause. Zu ihrer Familie und zu ihrem geliebten Pe Te, den sie so sehr vermisste. Aber es gab keinen Weg zurück. Nachdem sie sich geweigert hatte, den Sohn des Königs zu heiraten, hatte man ihr ein Schlafmittel gegeben und sie auf die Insel gebracht. Ausgesetzt, verbannt.

Tagelang hatte sie nicht gesprochen. Mi El hatte das still akzeptiert. Ohne Worte hatte sie ihr zu Beginn ein Mal am Tag etwas zu essen gebracht und war dann leise wieder gegangen. Nach ein paar Tagen hatte Mi El sie angewiesen, ihr Wasser selber von der sprudelnden Quelle in der Nähe zu holen. Und am nächsten Tag kam sie mit einem Wasserbüffel und sie hatten zusammen das Reisfeld vorbereitet und Reis gepflanzt. Mi El hatte ihr gezeigt, wie sie den Reis bewässern musste und nach vier Monaten hatten sie zusammen den Reis geerntet. Sie lernte, wie sie mit der Sichel umzugehen hatte, wie sie die Reisbüschel zusammenbinden und wie sie durch Schlagen auf ein Brett die Körner gewinnen konnte. Einen Zehntel des frisch geernteten Reises musste Mai Li in einen speziellen Behälter für die Aussaat im nächsten Jahr zurücklegen. Den Rest lagerte sie in der Vorratskammer ihres Stelzenhauses ein, gut geschützt vor den gefrässigen Tieren. Auf den abgeernteten Feldern bauten sie später Gemüse und Kartoffeln an. Seither kam Mi El nur noch zu Besuch, wenn der Mond am Himmel voll war.

Irgendwann hatte Mai Li das Schweigen gebrochen und Mi El hatte begonnen, ihr Geschichten zu erzählen. Von der Insel, ihren Tieren und Geistern. Auf jede Frage wusste sie eine Antwort. Sie war sehr weise und eine gute Lehrerin. Wenn aber Mai Li persönliche Fragen stellte, dann antwortete sie nur: «Die Zeit wird kommen, wo ich dir all diese Fragen beantworten werde, wenn du es dann noch wissen willst.» So erfuhr Mail Li weder wo Mi El wohnte, noch warum sie für sie da war.

◊◊◊

Pe Te war so stolz gewesen auf seine Mai Li, als sie sich dem König widersetzt hatte. Er hatte sich gefreut, dass sie den Königssohn nicht heiraten wollte. Wie hätte er ahnen können, dass er sie verlieren würde, egal wie sie sich entschied?

Nur einen Tag später war sie verschwunden. Niemand wusste, wo sie war. Niemand wusste, ob sie noch lebte oder umgebracht worden war. Er fiel in eine tiefe Trauer. Tagelang hatte er kaum etwas gegessen und getrunken. Dann machte er sich auf, sie zu suchen. Nach jahrelangem Umherirren kam er wieder zurück in sein Dorf. Er hatte nie die Hoffnung aufgegeben. Er spürte, dass sie gar nicht so weit von zu Hause weg war. Der Tag würde kommen, an dem er Mai Li wiederfinden würde.

◊◊◊

Mai Li schaute hinauf zum Mond. Manchmal glaubte sie, Pe Tes Gesicht zu sehen. Es lächelte ihr zu und schien ihr zu sagen, dass er auf sie wartete. Die Sehnsucht nach Pe Te wurde immer grösser. Als Mi El das nächste Mal zu Besuch kam, sagte Mai Li: «Meine liebe Mi El, du hast mir so viele Ratschläge gegeben. Du hast mir geholfen und mir Geschichten erzählt. Und du bist mir eine gute Freundin geworden. Jetzt habe ich eine ganz wichtige Frage. Bitte sag mir: was muss ich tun, damit ich von der Insel wegkomme. Ich möchte wieder nach Hause gehen zu meiner Familie und zu meinem geliebten Pe Te.»

«Ich kann dir diese Frage nicht beantworten. Aber ich weiss, dass du den Weg selber finden wirst, wenn die Zeit gekommen ist. Schau dich um, vielleicht ist er ganz nah.» Mit diesen Worten stand Mi El auf und ging nach Hause.

Mai Li überlegte lange. Sie schaute den Vögeln am Himmel zu und da wusste sie: Fliegen müsste sie können. Sie erinnerte sich, wie sie als kleines Kind einmal ihren Vater gefragt hatte, warum sie denn nicht fliegen könne. Er hatte geantwortet: «Hätte Gott gewollt, dass Menschen fliegen, hätte er ihnen Flügel gegeben», und damit war das Gespräch beendet gewesen. Aber heute war sie kein Kind mehr, sie wollte es probieren. Sie sammelte viele Federn, steckte sie an ihr Kleid, rannte auf der ganzen Insel herum und bewegte dazu ihre Arme auf und ab. Aber es gelang ihr nicht, zu fliegen. Auch die schönsten Luftsprünge brachten sie schnell wieder zurück auf den Boden.

«Schwimmen müsste ich, wie die Fische im Wasser.» Aber im Wasser leben Krokodile und andere wilden Tiere. Nein, das wäre zu gefährlich. «Mit einem Boot würde es gehen», überlegte sie. Sie suchte das ganze Ufer der Insel ab. Drei Mal umkreiste sie die Insel. Dabei war sie so auf das Finden eines Bootes konzentriert, dass sie die Bambus­brücke im Süden nicht wahrnahm. 

Bei Mi Els nächsten Besuch erzählte Mai Li von ihren vergeblichen Versuchen und beklagte sich: «Es geht nicht. Ich müsste wohl selber ein Boot bauen, um die Insel verlassen zu können». Und sie fragte, ob Mi El ihr beim Bau des Bootes helfen könne. Aber diese verneinte mit den Worten: «Es wird wohl noch einen dritten Weg geben.»

Dann erzählte Mi El ihr die Geschichte von den Mahut. «Ist dir auch schon aufgefallen, dass die Mahut ihre Elefanten nur mit einem dünnen Strick an einem feinen Ast anbinden?», fragte sie. «Der Elefant mit seiner enormen Kraft und seinem Gewicht von über vier Tonnen könnte sich leicht befreien und davonlaufen. Aber er macht es nicht. Die Mahut haben einen Trick. Wenn der Elefant noch jung ist, binden sie ihm ein dickes Seil ums Bein und befestigen diesen an einem starken Baum. So sehr der junge Elefant es auch versucht, zerrt und reisst, er schafft es nicht sich zu befreien. So lernt er, dass der Baum stärker ist als er. Und wenn er dann ausgewachsen ist, lässt er sich mit nur einem dünnen Seil an einem Ast anbinden.»

◊◊◊

Mai Li setzte sich ans Ufer. Traurig dachte sie über diese Geschichte nach. Ob die Menschen sich wohl auch mit nur einem dünnen Seil anbinden liessen, ob vielleicht sie selber vergessen hatte, wieviel Kraft sie eigentlich hätte?

Ihr Blick schweifte über das Wasser des Flusses und blieb an der Bambusbrücke hängen. Ihre Grossmutter hatte sie immer davor gewarnt, über die Brücke zu gehen. Der Bambus könnte morsch sein und sie würde ins Wasser fallen. Oder sie könnte stolpern und von der Brücke fallen. Einmal im Wasser würde es keine Rettung mehr geben. 

Mai Li stand auf und vorsichtig schaute sie sich die Brücke an. Ob dies wohl ihr einziger Weg in die Freiheit war? Ihr Herz klopfte laut. Sie wusste nicht, ob vor Aufregung, Vorfreude oder Angst. Vorsichtig setzte sie ihren Fuss auf die Brücke. Das feine Bambusgerüst schien stark genug zu sein, um sie zu tragen. Die ersten Schritte gingen gut, die festen Bambusstangen auf der Seite gaben ihr Halt. Dann schaute sie nach unten in das brodelnde Wasser. Es war, als ob eine grosse Kraft sie nach unten zog. Der Boden hatte grosse Lücken und die seitlichen Bambusstangen waren plötzlich viel zu weit weg, kaum mehr zu erreichen. Mai Li blieb stehen. Sie konnte nicht mehr atmen, ihr Kopf war schwer und dröhnte. «Lieber Himmel, hilf mir», stöhnte sie. «Atme tief ein und mach einen Schritt!» War es Mi El, die zu ihr sprach? Sie öffnete die Augen und vor sich sah sie eine schemenhafte Gestalt. Schnell machte Mai Li einen Schritt vorwärts. Sie wollte sich der schutz­versprechenden Gestalt nähern, sich an ihr festhalten. Aber diese ging langsam weiter und Mai Li folgte ihr, zittrig und kaum atmend.

Vorsichtig einen Fuss vor den anderen setzend kam sie so bis zur Mitte der Brücke. «Und wenn Pe Te gar nicht auf dich gewartet hat?». Plötzlich, wie aus dem Nichts, war dieser Gedanke auf­getaucht. Abrupt blieb Mai Li stehen und schaute zurück. Sie wusste, was sie auf der Insel erwartete. Sie würde wieder Reis und Gemüse anbauen und sich auf Mi Els monatliche Besuche freuen. Das Ungewisse war auf der anderen Seite der Brücke. Sie könnte weitergehen, aber was würde sie dort vorfinden? Vielleicht war Pe Te gestorben oder verheiratet und hatte drei süsse kleine Kinder. Auf der Insel würde sie voll Sehnsucht den Mond anschauen und Pe Tes Gesicht darin suchen. Auf der anderen Seite würde sie Gewissheit haben. Aber ob sie damit leben könnte? Hin und her überlegte sie, doch sie kam zu keinem Entschluss.
«Du kannst auch hierbleiben und darauf warten, dass die Brücke verrottet und du in den Fluss fällst», hörte sie Mi Els lachende Stimme. «Dich nicht zu entscheiden, ist auch eine Entscheidung.»
Es war, als ob Mai Li aus einem tiefen Traum erwacht wäre. Sie atmete tief durch. Ja, sie würde über die Brücke gehen. Sie würde sich der Wahrheit stellen. Sie hatte gelernt, Reis und Gemüse anzubauen und sich in den letzten sieben Jahren selbst versorgt. Sie würde es auch auf der anderen Seite der Brücke schaffen. Plötzlich fühlte sich Mi El sehr leicht, wie von einer grossen Last befreit. Und sie rannte los.

◊◊◊

Pe Te stand am Ufer und schaute über das Wasser. Auf der Brücke bewegte sich jemand auf ihn zu. Zuerst ganz langsam, dann immer schneller. Noch bevor er sie richtig sah, wusste er, dass es Mai Li war. Er streckte seine Arme aus und fing sie lachend auf, als sie das Ende der Brücke erreicht hatte. Lange standen sie engumschlungen am Ufer des Flusses. Eine Umarmung, welche alle Erlebnisse und Gefühle der letzten Jahre verdichtete und jedes Getrenntsein aufhob.

Zusammen schauten sie hinauf in den Himmel und bedankten sich für seine Hilfe. Und im Mond sahen sie das strahlende Gesicht von Mi El, das ihnen zulächelte.